MARIAN MACHINEK MSF, Die Bedeutung des Gewissens im Kontext des anthropologischen Konzeptes von Joseph Ratzinger

Volume XVIII: 2012

Philosophy — Theology— Spiritual Culture of the Middle Ages
ISSN 0860-0015
e-ISSN 2544-1000

ZUSAMMENFASSUNG

Papst Benedikt XVI. greift gerne auf eigenes literarisches Gedankengut zurück, das er vor dem Jahr 2005, noch als Joseph Ratzinger, ein bedeutender deutsche Theologe, dann Erzbischof und Kardinal und schließlich Präfekt der Glaubenskongregation erdacht hat. Obwohl darin die Gewissenslehre keine herausragende Stellung einnimmt, ist sie auch nicht ganz unbedeutend. Ratzinger sieht das größte Problem darin, dass im gegenwärtigen Gewissensverständnis die ganze Aufmerksamkeit auf den Gewissensakt, also auf die individuelle und konkretsituative Gewissensdimension gelenkt wird, ohne die Bedeutung des Gewissensgrundes zu bemerken. Er schlägt vor, den mittelalterlichen Begriff der Synderese durch den platonischen Begriff der Anamnese zu ersetzen. Es ist das Urgewissen gemeint, das einer inneren Seinstendenz des nach dem Bild Gottes geschaffenen Menschen gleich kommt und die Urerinnerung an das Wahre und Gute mit sich bringt. Ohne die Anamnese des Ursprungs und des Schöpfers gibt es kein Fenster und keine Tür, die dem Menschen den Ausblick auf das Ganze und das Gemeinsame gestatten. Die Dimension des Urgewissens, die den Knotenpunkt des interreligiösen Dialogs darstellt, meint kein begriffliches, detailliertes Wissen über die moralischen Verhaltensweisen, sondern eher die innere Fähigkeit, das Gottgemäße zu erkennen. Um diese Fähigkeit aufrechtzuerhalten, braucht das Gewissen einen ständigen Dialog mit anderen, vor allem in der Gemeinschaft des Glaubens: die Anamnese des Schöpfers muss zur Anamnese des Glaubens und des ”neuen Wir” werden. Nur auf diese Weise kann das Gewissen wirklich das Mit-Wissen mit der Wahrheit bedeuten. Der Wahrheitsbegriff wird zum Schlüsselbegriff in der Gewissenslehre Ratzingers. Dank eines solchen Gewissenskonzeptes vermindert sich die Spannung zwischen dem individuellen Gewissens und der Autorität. Joseph Ratzinger kritisiert auch die allzu schnelle Anerkennung des irrenden Gewissens. Obwohl jeder Mensch dem im Gewissen (auch falsch) erkannten Guten folgen muss, kann der falschen Erkenntnis eine schuldhafte Verwahrlosung des Gewissens vorausgehen.